Estland / Peipus: Altgläubige Dörfer der Zwiebelrussen mit Karakatitsa
Was altgläubige Dörfer am Peipussee von anderen Dörfern in Estland unterscheidet? Letztlich Zwiebeln, russische LKWs und Karakatitsa. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.
Sonnenaufgang über dem Peipussee
Sonnenaufgang über dem Peipussee. Ach nee, jetzt noch nicht aufstehen. Noch mal die Augen zu machen. Ist gerade so schön in unserem Hubbettaquarium. Man sieht was, ohne aufstehen zu müssen. Jetzt aber. Erstmal mit den Kindern schwimmen gehen. Gar nicht so einfach mit dem Handy in der Hand. Gibt aber schöne Familienfotos. Hier ohne Familie.
Dann rumtrödeln. Sind die letzten auf dem Campingplatz am Peipussee. Die Allerletzten.
Umbereifung extrem: Karakatitsa am Peipussee
Start nach Süden. Weiter zu den Zwiebelrussen. Die sind ja im Reiseführer groß angekündigt: „Die Altgläubigen kamen bereits im 18. Jahrhundert aus Russland […]. die Altgläubigen leben seither in einer sehr isolierten und streng abgegrenzten Gesellschaft, ihr Alltagsleben hat sich seit ihrer Ansiedlung kaum verändert“ (S. 641). Nun ja. Die Altgläubigen mögen zwar altgläubig sein. Von einem Leben wie im 18. Jahrhundert ist jedoch nichts zu spüren. Die Leute sehen ganz normal aus. Sind ganz normal freundlich. Haben ganz normale Hobbys. Wie zum Beispiel den Umbau von allen möglichen Autos zu Eisrennern. Das sind mal richtige Umbereifungen.
Der Spaß nennt sich Karakatitsa / Каракатица. Umgebaut wird alles, was rollt. Hatte so einen Vario mit Unimogbereifung ja selbst auch mal in der Vorbereitung.
War aber zu zimperlich bei der Herstellung der Radausschnitte. Hier in Estland am Peipussee ist das anders. 2%? 8%? TÜV? Abgasgutachten? Lächerlich. Der Spaß fängt erst bei einer Verdreifachung des Radumfangs an. Hier wurde schon mal großzügig mit Flex und Hammer vorgearbeitet.
Altgläubige Dörfer: Ist hier die Zeit stehengeblieben?
Ähm, weshalb sind wir hier? Ach ja, wir wollen ja die altgläubigen Dörfer vom Peipussee besichtigen. Dem Reiseführer nach müsste das quasi eine „exotische Reise in ein anderes Estland“ sein (S. 641). Hatte mir so eine Art Reise ins Spätmittelalter vorgestellt. Hab ich da was falsch gelesen oder verstanden? Meiner Familie falsche Versprechungen gemacht? Hier ist nix vom 18. Jahrhundert zu sehen.
Wo stand das nochmal? Ah, Seite 639. Doch da steht wieder nur: „Im Dorf Kolkja […] hat sich das Leben seit Jahrzehnten kaum verändert.“ Auweia. Da hat also gar nicht der Reiseführer übertrieben. Sondern meine Fantasie ist mit mir durchgegangen. Hatte Jahrzehnte irgendwie für Jahrhunderte gelesen. Aber so macht es natürlich Sinn. Wobei die Autos noch keine Jahrzehnte alt sind. Die Satellitenschüsseln auch nicht.
Dieser UAZ-452 Pritschenwagen aber nun wieder schon.
Oder der GAZ-53. Wird auch schon fast 3 Jahrzehnte nicht mehr hergestellt. Doch er läuft immer noch, der Gute.
Aber wenn jemand in unser Stadtdörfchen kommt, wird er doch auch nicht schreiben, dass hier die Zeit stehengeblieben ist. Nur weil bei uns vor der Tür der 25 Jahre alte Mercedes 711 steht. Und auf jedem Friedhof der Welt bleibt die Zeit stehen. Das ist ja der Sinn der Sache. Dass endlich niemand mehr an der Uhr dreht.
Wo ist der an die Holzhäuser genagelte Trockenfisch?
Kann es nicht lassen. Muss wieder mal aus dem Reiseführer zitieren. Denn ich hab meinen Kindern die Geschichte von den an die Holzhauswände genagelten Fischen erzählt. Doch wir sehen nicht einen angenagelten Fisch. Aber diesmal steht das wirklich so im Reiseführer (Seite 640): „Wenn [Männer des Dorfes] abends zurückkehren, nageln sie ihren Fang an die Wände ihrer Häuser und Schuppen. Luftgetrocknet, so weiß man hier seit Generationen, ist der Fisch eine Köstlichkeit.“
Nun, ich würde gern ein Foto dieser Köstlichkeit liefern. Aber wir sehen kein einziges Fischlein. Und das mit 12 großen Augen, die aus 6 riesigen Fenstern heraus die Umgebung absuchen, während der Reisebus im Schritttempo durch die altgläubigen Dörfer zuckelt. Oder sind die getrockneten Fische am Strand des Peipussees gemeint? Hmm. Eher nicht.
Zwiebelturmkirchen und Holzhäuser am Peipussee
Russisch-orthodoxe Kirchen sind in den altgläubigen Dörfern auch knapp. Aber in Kasepää bei Varnja gibt es zumindest eine Zwiebelturmkapelle.
Die Kapelle wird angeblich seit dem 18. Jahrhundert ununterbrochen genutzt (Seite 639). Das mag vielleicht sein. Aber definitiv nicht in dieser baulichen Hülle. Solches Holzhandwerk stammt aus der Neuzeit. Fehlen bloß noch die Nagelverbinder.
Auch die Kapelle selbst wurde nach meiner bescheidenen (und hoffentlich völlig unzutreffenden) Meinung aus industriell gefertigtem Baumarktholz schnell zusammengezimmert. Das Schild ist sowieso neu und deutet auf eine Errichtung in den letzten 25 Jahren hin: „Kirche zu Ehren der Schöpfung des Herrn. Die estnische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats“ (ЦЕРКОВЬ В ЧЕСТЬ СРЕТЕНИЯ ГОСПОДНЯ Эстонская Православная Церковь Московского Патрнархата). Interessant übrigens, dass Православная aus Право (wahrhaftig) und славная (herrlich) zusammengesetzt ist, aber als orthodox übersetzt wird. Vor uns steht also genau genommen eine estnische, wahrhaft herrliche Kirche.
Aber ein bisschen Übertreibung gehört wohl immer dazu. Behaupte ja selbst auch immer, dass der MB 711 D 110 PS hat. Dabei sind es genau genommen nur 105 PS. Und der Bus müsste eigentlich MB 710,5 D heißen. Nehmen wir es also mal nicht so genau. Gehe also davon aus, dass ich an der falschen Kapelle stehe. Dass ich den versprochenen, an die Wände der Holzhäuser genagelten Trockenfisch nur nicht finde. Doch ehrlich gesagt sind selbst die Holzhäuser knapp. Und Holzhäuser sind ja Häuser aus Holz. Keine Steinhäuser mit Holzverschalung.
Reichlich Zwiebeln bei den Zwiebelrussen
Aber gut. Will ja nicht meckern. Sondern altgläubige Dörfer besichtigen. In denen die Zwiebelrussen leben. Wo sind denn nun die ganzen Zwiebelfelder? Erst in den letzten Dörfern zwischen Kolkja und dem Sumpfgebiet an der Mündung des Emajõe gibt es (sichtbare) Zwiebelfelder.
Und Zwiebeltrockenschuppen.
Zwiebelverkaufsstände vor Steinhäusern.
Zwiebelverkaufsstände vor Holzschuppen. Zwiebeln geflochten und lose. Kaufe lieber mal die losen Zwiebeln. Da werden die Zwiebeln wenigstens auch gegessen.
Von den altgläubigen Dörfern weiter in den Südosten Estlands
Aber schön sind die altgläubigen Dörfer trotzdem. Und schon auch anders als im restlichen Estland. Nun gut, durchstarten. Wollen heute Kilometer machen.
Aber dann doch wieder nicht so richtig. Erstmal Mittagessen in einem Waldstück. Schön hier und ausnahmsweise kommt keiner. Obwohl ich mitten auf der Piste stehe. [Wieso gibt es davon eigentlich kein Foto?] Jetzt geht es aber los. Estland ist wirklich schön. Und im Haanja Nationalpark sogar mit hübschen Dörfern und richtigen Serpentinenstraßen wie in Norwegen. Ist ja auch der höchste Berg im Baltikum. 317 Meter. Immerhin.
Altgläubige Dörfer am Peipussee: Weitere Infos und Quellen
Jedenfalls ist Estland kein armes Land und kein russisches. Bis eben auf die altgläubigen Dörfer am Peipussee.
- Typische altgläubige Dörfer am Peipussee sind vor allem Kolkja, Kasepää und Varnja nördlich des Sumpfgebiets Emajõe-Suursoo (siehe Karte)
- Die Zwiebeln vom Peipussee (Peipsi Sibul) kosten zwischen 1,50 und 3 €/kg und schmecken ebenso gut wie die normalen Zwiebeln aus dem Bioladen.
- Die Seitenzahlen beziehen sich auf unseren Reiseführer aus dem Reise Know-How Verlag. Der ist wirklich vollständig, interessant und hilfreich. Aber hier wurde ein bisschen übertrieben.
- Und auf Youtube gibt es natürlich einige Videos vom Karakatitsa auf dem Peipussee: Klick
[…und weiter geht’s auf die lettischen Gravel Roads…]