Unerkannt durch Freundesland: Reisegeschichten einmal ganz anders

Die Geschichten aus dem Buch „Unerkannt durch Freundesland“ haben mir die Augen geöffnet. Also nicht heute, sondern damals. Vor dem Fall der Mauer. Als es dieses Buch noch gar nicht gab. Endlich sind diese ganz anderen Reisegeschichten aufgeschrieben.

"Unerkannt durch Freundesland" und "Per Auto durch die Sowjetunion"

2 Klassiker: „Per Auto durch die Sowjetunion“ und „Unerkannt durch Freundesland“

Ein Buch voller unglaublicher Geschichten

Cornelia Klauß und Frank Böttcher haben im Buch „Unerkannt durch Freundesland“ in insgesamt 30 Kapiteln die Erlebnisse unterschiedlichster Autoren gesammelt. Verbindendes Element aller Geschichten ist die Sehnsucht nach der Weite, nach Freiheit und Abenteuer. Und dafür waren alle Beteiligten bereit, sich in unsicherer Informationslage auf das Neue, das Unbekannte einzulassen und ausgetretene Pfade zu verlassen.

So sind Geschichten von illegalen Reisen durch das große Bruderland zusammen gekommen, die niemand, der davon noch nichts wusste, für möglich gehalten hätte. Einige Geschichten kannte ich schon vom Hörensagen, einige waren auch mir vollkommen neu. Und so habe ich das Buch gern und schnell verschlungen. Denn die Chance, selbst zum UdFler zu werden, blieb mir durch die zu späte Geburt (oder den „zu frühen“ Mauerfall) verwehrt. Insofern bleibt die Hochachtung vor denen, die viel riskiert und viel gewonnen haben.

Auch die zeitgenössischen Fotografien zeigen russischen Alltag, persönliche Eindrücke und schöne Portraits. Aber kaum „offizielle“ Attraktionen. Schließlich war in der Sowjetunion das Fotografieren für die UdFler sowieso entweder nicht opportun (weil Aufmerksamkeit erregend) oder gleich ganz verboten (siehe den Auszug aus „Per Auto durch die Sowjetunion“, S. 268 f.).

Filmen und Fotografieren verboten! Entn. aus Leonid Sadworny: Per Auto durch die Sowjetunion, S. 268 f.

Filmen und Fotografieren verboten! Entn. aus Leonid Sadworny: Per Auto durch die Sowjetunion, S. 268 f.

UdF – Unerkannt durch Freundesland

Um zu reisen, gab es eigentlich nur einen recht schmalen Korridor durch den Ostblock bis hin zum Schwarzen Meer. Diesen legal längstmöglichen Weg durch den Ostblock aus Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien hatten wir 1988 ja mit Fahrrädern komplett durchmessen. Hin und zurück. Doch was sollte dann kommen? Und genau beim Grübeln über diese Frage hörte ich den ersten Bericht von einem UdFler. Natürlich in Gustav Ginzels Misthaus. Wo auch sonst.

UdFler nannten sich diejenigen, denen es seit den siebziger Jahren mit einem Trick gelungen war, die große Freiheit ausgerechnet im Land der absoluten Überwachung zu finden. Die mit einem (dem Normalsterblichen unbekannten) Transitvisum in die Sowjetunion legal einreisten, dann aber im Land untertauchten und dahin fuhren, wo legal niemand hin sollte: Mit der Transsib zum Eissegeln über den Baikalsee (S. 176), per Anhalter zum Klettern an den Pik Lenin (S. 167) oder mit dem Troll zum Erfahrungstausch nach Baku (S. 70). Natürlich überschritten die UDFler die legale Visadauer um Wochen, wenn nicht gar Monate. Und natürlich waren diese Reisen illegal.

MfS und KGB stritten um die Bedeutung der Transitabweichler

Da die Reisenden aber in den allermeisten Fällen ordentlich in die DDR zurückkehrten (zu Ausnahmen siehe S. 429), wurden diese Ausbrüche aus der Normalität zwar nicht direkt gefördert, aber offenbar als Ventil des Volksunmuts über die Reisebeschränkungen geduldet (S. 427). Und in den letzten Jahren der DDR müssen es hunderte Transitabweichler jährlich gewesen sein. Die russische Ordnungsmacht, der ein derartig massenhafter Verstoß gegen eherne Vorschriften natürlich zuwider war, sah sich dadurch sogar genötigt, die Türen der Transitzüge zu verriegeln. Aber mit einer Flasche Wodka war schon damals (und ist wahrscheinlich noch heute) in Russland alles möglich.

Und insgeheim stritten sich das Ministerium für Staatssicherheit MfS und der russische Geheimdienst KGB um den „richtigen“ Umgang mit den Transitabweichlern und Reisegruppenflüchtlingen. Natürlich wurde dieser Streit im Buch auch in einem eigenen Kapitel aufgearbeitet (Seite 414 ff.).

Das Buch „Unerkannt durch Freundesland“ ist eigentlich Pflichtlektüre für alle Russlandreisenden

Auch heute richtet sich der Blick vieler Fernreisender nach Osten: Nach dem Wegfall vieler klassischer Reiseziele für Autotouristen versprechen zumindest die meisten ehemaligen Sowjetrepubliken nach wie vor weite Reisen ohne Einschränkungen. Ich weiß nicht, wie viele Expeditionsmobile sich Jahr für Jahr auf den langen Weg zum Baikal und in die Mongolei machen. Aber es werden viele sein.

Und heute könnte man mit Google Maps die gesamte Strecke vorher abfahren, jeden Übernachtungsplatz planen und alle notwendigen Formalitäten von spezialisierten Büros erledigen lassen. Doch wer dies tut, dem entgeht viel von „Mütterchen Russland“, von der Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Bürokratieverdrossenheit der ganz normalen Menschen im Land.

Und insofern liegt für mich die eigentliche Stärke des Buches im authentischen Einblick in die Seele des russischen Volkes. Und in die Komplexität der russischen Bürokratie. So werden auszugsweise auch die Bestimmungen für das Filmen und Fotografieren in der Sowjetunion abgebildet (Seite 434), entnommen aus dem (einzigen) Werk für ausländische Autotouristen: Per Auto durch die Sowjetunion von Leonid Sadworny.

„Unerkannt durch Freundesland“ ist also eine perfekte Einstimmung auf eine Reise in den unbekannten Osten. Das Buch „Per Auto durch die Sowjetunion“ wäre zwar auch nicht schlecht, ist aber nur noch mit etwas Glück und nur gebraucht zu kaufen. Bei mir liegt genau dieses Buch, versehen mit dem besitzanzeigenden Namen meines Vaters, seit Jahren gut verwahrt in meinem Schreibtisch. Unterste Schublade. „Unerkannt durch Freundesland“ liegt jetzt daneben. Ein Ehrenplatz.

Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hrsg.): Unerkannt durch Freundesland – Illegale Reisen durch das Sowjetreich: Klick

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